SIGRID
GERCKE
Es scheint, als habe sich mein Bedürfnis, in meinem bildnerischen Werk unter die Oberfläche zu tauchen und mit Rissen, Brüchen, Untiefen, Abgründen und Verletzungen zu arbeiten, in den letzten Jahren intensiviert. Aber – wie bei allen kreativ Schaffenden – wirken ebenso die Korrosionsprozesse und Verwerfungen im persönlichen Leben als Verstärker des eigenen bildnerischen Themas.
Ich komme von den großen Formaten her, gern bis zu 2 x 2 m, im Moment arbeite ich mit reduzierter Größe, aber verschwenderischer mit dem Material. Und seit einiger Zeit auch nicht mehr nur flächig mit Farbe auf Leinwand an der Wand oder auf dem Boden, sondern ich gestalte meine Bildwerke auf Sockeln: Auf Holzrahmen von 4 bis 10 cm Höhe befestige ich quadratische Platten aus Leinwand, Sperrholz oder Pappe. Auf diesen Oberflächen, erhöht und nach allen Seiten offen, trage ich mein Material auf und bearbeite es.
Meine Materialien: Acrylfarben und Erde, Asche, Kohle, Bitumen, Sand (aus verschiedenen Orten der Erde), Eisenpulver, Gips, Wachs, Steinmehle.
Meine Werkzeuge: meine Hände, Spachtel, Rollen, grobe Flachpinsel, Schwamm/Tuch, Schleifpapier, Heißluftföhn ...
Ich lege den jeweiligen Objektkörper in meinem Atelier auf den Boden oder auf den Werktisch und schaue von oben auf ihn herab, auf diese hervorgehobene Fläche, auf der ich mit meinen Händen eine neue quadratische Welt erschaffen werde.
Meist beginne ich unten rechts. – Dazu machte eine befreundete Kunsthistorikerin eine interessante Anmerkung: In unserer westlichen Kultur sind wir es gewohnt, entsprechend unserer Schreibrichtung links oben den Anfang einer Erzählung zu vermuten und nach rechts weiterzulesen. Das Ende einer beschriebenen Seite ist demnach für uns rechts unten verortet. Auch Kunstwerke „lesen“ wir, gemäß unserer gewohnten Blickrichtung, von links nach rechts. Wenn ich nun – gegen die Lesegewohnheit – rechts unten mit meinem Bild anfange (am „Ende der Seite“), so rolle ich sozusagen meine Geschichte von hinten auf.
Ich beginne mit dem Ende, entwickle meine Bilder „rückblickend“ vom Ende her.
© 2018 Sigrid Gercke